Werkstattbericht 12: Zufallstabellen

triakonta_logo kleinNach einer kurzen Vorstellung der Heldenfahrt gibt es diesmal wieder einen Werkstattbericht zu einem abstrakteren Kapitel von Pandora, und zwar zum kontroversen Thema Zufallstabellen. Zunächst möchte ich kurz auf Sinn und Unsinn derselben eingehen und nach einigen theoretischen Überlegungen den Einsatz derselben bei Pandora vorstellen.

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Zufallstabellen – Relikt oder Chance?

Bei Zufallstabellen denken viele wahrscheinlich zuerst an Begegnungstabellen, wie sie seit den altehrwürdigen Zeiten in Hexcrawls, als „wandernde Monster“ in Dungeons oder Zufallsbegegnungen auf Reisen verwendet wurden. Im Idealfall bilden solche Tabellen die Spielweltrealität in Form unterschiedlicher Häufigkeiten für Begegnungen ab – DSA hatte in den 90ern im Handbuch für den Reisenden aus der Box Die Kreaturen des Schwarzen Auges beispielsweise schon sehr elaborierte Begegnungstabellen für Tiere und andere Kreaturen in den verschiedenen aventurischen Regionen, was man in der Zoo-Botanica der 4. Edition nicht mehr geschafft (oder gewollt) hat. Durch unterschiedliche Häufigkeiten wurde auch mechanisch abgebildet, dass es in einem mittelländischen Wald halt wesentlich wahrscheinlicher ist, einen Hirsch zu treffen, als einen Lindwurm; als Spielleitung hat man durch die Nutzung solcher Zufallstabellen bereits eine Spielweltabbildung, die zwar extreme Ergebnisse nicht ausschließt, aber eine gewisse Erwartbarkeit bedient – und das war in meinen Augen auch ein hauptsächlicher Sinn dieser Tabellen, nämlich eine kognitive Entlastung für den Spielleiter, indem er eben nicht jede mögliche Begegnung ausarbeiten, vor dem Spiel in Verbreitungsangaben der Kreaturenkapitel recherchieren oder ad-hoc entscheiden zu müssen, ob die Gruppe jetzt auf einen Waldschrat oder einen Bären trifft.

Bei Zufallstabellen in Abenteuern scheiden sich die Geister schon eher; wenn die Exploration der Umgebung kein wesentlicher Abenteuerinhalt ist, kann man gerechtfertigterweise hinterfragen, ob es Sinn macht, eine Reise mit einer Zufallstabelle darzustellen, bei der die Hälfte der Ergebnisse weder spannend noch relevant für das Szenario ist. In irgendeinem Podcast (?) habe ich glaube ich mal die Anekdote gehört, dass das gleiche Abenteuer bei einer Gruppe als spannend und kurzweilig ankam, und sich der andere Spielleiter bei seiner Gruppe dafür entschuldigen musste, dass die Zufallswürfe leider keine interessanten Ereignisse produziert haben. Und ich kenne auch Spieler, die wären im Nachhinein enttäuscht, dass sie nicht alles vom Abenteuer mitbekommen haben, weil halt nur zweimal auf einer Tabelle mit sechs möglichen Ergebnissen gewürfelt wurde. Hilfsmittel können Zufallstabellen aber natürlich auch in Abenteuern sein – nur braucht man hier sowohl bei ihrer Erstellung wie bei ihrer Anwendung etwas mehr Fingerspitzengefühl.

Daneben gibt es Zufallstabellen (meiner Wahrnehmung nach vor allem in moderneren Systemen), die so detaillierte Einträge haben, dass sie eigentlich im Spiel kaum spontan zu verwenden sind, weil sich derart außergwöhnliche Ergebnisse schnell abnutzen oder sie so exotisch sind, dass sie eigentlich eher eine Inspiration für die Spielleiterin darstellen, daraus ein ganzes Szenario zu basteln – zur Improvisation am Spieltisch finde ich solche Tabellen wenig geeignet, wenngleich sie natürlich viel Flair transportieren und Fließtext sparen können. Und natürlich Zufallstabellen für Schätze, Artefakte, Namen und soweiter – im Endeffekt oft nur erwürfelbare Auflistungen von Spielweltentitäten ohne tatsächlichen Bezug zur Umgebung.

Meiner Ansicht nach erfüllen Zufallstabellen drei Aufgaben:

  1. Sie entlasten den Spielleiter von grundlegenden Entscheidungen (nicht aber vor eventuell nötigen konkreten Improvisationen mit dem Ergebnis)
  2. Sie bilden durch die Auswahl ihrer Einträge und deren Häufigkeitsverteilung die Spielwelt ab (im Idealfall)
  3. Sie sorgen für ein (je nach dem, wie Punkt 2 umgesetzt ist) kleineres oder größeres Maß an Unvorhersehbarkeit des Geschehens und damit potentiell Spannung, Überraschung und Herausforderung (sowohl für die Spieler, die auch mit unwahrscheinlichen Ergebnissen rechnen müssen, als auch für die Spielleiterin, die vielleicht spontan Dinge improvisieren muss, an die sie bei der Vorbereitung nicht gedacht hat).

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Meine Ansprüche an Zufallstabellen

Zufallstabellen können ein mächtiges Werkzeug sein, das nicht nur wie oben beschrieben bei der Spielweltabbildung helfen und das Geschehen durch unwahrscheinliche Ereignisse bereichern kann, sondern auch durch seine Fakten-Vorgabe die Kreativarbeit erleichtern kann (im Sinne von „creative contraints“, siehe hierzu etwa beim alten PiCast). Das gilt aber bei weitem nicht nur für Zufallsbegegnungen – Würfeltabellen kann man grundsätzlich für alles Mögliche erstellen, von Preisen und Angeboten bei Händlern über das Aussehen von NSC, alltägliche Ereignisse auf einem Markt (etwa als zufällige Auswahl von Vignetten mit Spielpotential), für Landschaften, Wetter bis hin zu Antagonisten und ganzen Abenteuer-Plots. Nicht alle diese Optionen finde ich gleichermaßen sinnvoll; da das Erstellen von Zufallstabellen durchaus Spaß machen kann (der Rorschachhamster haut davon ja unzählige raus), lohnt es sich, vorher zu überlegen, was man eigentlich mit diesen Würfeltabellen erreichen möchte – das Netz ist voll von Zufallstabellen, deren Zweck sich mir oft nur am Rande erschließt oder die auch in ihrer Anwendbarkeit oft eingeschränkt sind. Was nützt mir eine noch so schöne Sammlung von Zufallstabellen, mit der ich das Aussehen eines NSC minutiös konstruieren kann, wenn ich dafür ein Dutzend Würfelwürfe brauche und zwischendrin noch Ergebnisse notieren muss, um dann am besten am Ende als Zufallsbegegnung in der noblen Zwergentaverne eine „kleinwüchsige, muskelbepackte, greise Orkfrau mit äußerst attraktiven Gesichtszügen, langem Bart und einer krummen Nase mit Kettenhemd, Florett und Matrosenkleidung, von cholerischem Temperament sowie mit einem ungesunden Interesse für die Züchtung von Fangschrecken“ rauskommt? Zufallstabellen, die keine reinen Aufzählungen (wie etwa Namenslisten) sind, müssen also schnell anwendbar sein – das erfordert möglichst wenige Würfe bis zum Ergebnis sowie kurze und knackige Einträge. Diese dürfen nicht zu detailliert sein und sollten Spielraum zur Ausgestaltung lassen – gleichzeitig aber inhaltsschwer bzw. inspirierend genug, dass man damit als SL sofort etwas anfangen kann – also nicht „Begegnung auf der Straße: ein Ritter mit W6 Personen Gefolge“, sondern „ein fahrender Ritter mit Knappe und Rossmagd, die auf dem Weg zu einem Turnier / auf einer Queste / in diplomatischer Mission unterwegs / auf der Suche nach einem berüchtigten Gesetzlosen sind.“ Außerdem sollen sie relevante Inhalte abbilden, vor allem solche, die zu entscheiden wichtig ist, für die man als SL aber vielleicht auch nicht immer sofort eine Entscheidungsgrundlage hat. 

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Zufallstabellen bei Pandora

Pandora wird im Spielleiterkapitel einen ganzen Sack von Zufallstabellen mitbringen, darunter solche, die man in der einen oder anderen Form schon kennt (z.B. für klassische Begegnungen), solche, die speziell für die Hintergrundwelt dienlich sind (z.B. die Erschaffung einer Insel mit 6W6 oder W30 Gerüchte und Erzählungen) und solche, die auf den ersten Blick sehr minimalistisch und eng in ihrem Anwendungsgebiet erscheinen, in ihrer kreativen Anwendung aber ziemlich viel Potential haben. Letzteres möchte ich beispielhaft kurz darstellen: die Tabelle „Zufällige Motivation einer Person“. Sie sieht so aus (W6):

  1. Freundschaft, Familienbande, Liebe
  2. Gemeinsinn, Tugendhaftigkeit, Güte
  3. Glaube, Frömmigkeit, Pflicht, Ehre
  4. Lust, Selbstverwirklichung, Neugier
  5. Reichtum, Besitz, Ansehen
  6. Macht, Kontrolle, Sicherheit

Auf den ersten Blick macht die Tabelle vielleicht nicht viel her – ihr Nutzen ergibt sich aus der Art der Anwendung. Die Tabelle kann für beliebige ungewöhnliche Handlungen oder Interessen eines Nichtspielercharakters ebenso herangezogen werden wie zur Bestimmung der wesentlichen abstrakten Beweggründe einer Person – tiefgängigere Charaktere erhält man durch mehrfachen Wurf auf dieser Tabelle und gemeinsame Interpretation der Ergebnisse – beispielsweise könnten drei Würfe hintereinander die Prioritäten einer Person angeben (wobei doppelte Ergebnisse für eine extreme Ausprägung stehen), zwei Würfe als widerstrebende Interessen, als vorder- und hintergründige Motive interpretiert oder anderweitig verknüpft (z.B. „um-zu“) werden. Einfache Beispiele:

Für eine einfache, zufällige Charakterisierung des Herrschers einer kleinen Polis wirft die Spielleitung 2W6 und erzielt 4 und 5. Dies könnte naheliegenderweise für einen hedonistischen Tyrannen stehen, der seinen Untergebenen Steuern abpresst, um seine persönlichen Vergnügungen zu finanzieren, vielleicht aber auch für einen von den Göttern verfluchten Geizhals, für den sein Reichtum den letzten Quell von Freude und Befriedigung darstellt; ein Ergebnis von zweimal 3 könnte einen religiösen Fanatiker zeigen und ein Wurf von 1 und 6 vielleicht einen machtbewussten Dynasten, der seine Herrschaft um jeden Preis für seine Nachfolger erhalten will – oder aber einen milden und liebenswürdigen Herrscher, dessen Autorität sich auf wahrer Verehrung durch sein Volk gründet.

Aus einer solchen Nutzung der Motivationstabelle können sich bereits Konflikte, Wünsche und Bedürfnisse einer Person ergeben, die eine Spielhandlung in Gang setzen und jene zu einem Gegner, Verbündeten, Hindernis oder Auftraggeber der Heroen prädestinieren können.

Es gibt bei vielen solcher kleiner Tabellen keine Vorgabe, wann genau sie wie eingesetzt werden – stattdessen mehrere Absätze über den kreativen Umgang mit ihnen. Oben genanntes mehrfaches Würfeln etwa macht aus einer kleinen W6-Tabelle plötzlich einen „Charakter-Generator“ mit erstaunlich großem Ergebnisraum. Auch viele andere Tabellen sind sehr kurz (meist auf 1W6 ausgelegt, da dieser wirklich der fixeste Würfel ist), können aber auf verschiedene Arten benutzt werden –  beispielsweise können unterschiedlichen Häufigkeiten auf W6-Tabellen dadurch erzeugt werden, indem man 2W6 wirft und das niedrigere oder höhere Ergebnis (oder auch den Durchschnitt) verwendet. Die meisten Tabellen haben außerdem eine Art „Sortierung“ (beispielsweise beginnt die Flora-Tabelle für Inseln mit „1: Karger Boden fast ohne Bewuchs“ und endet mit „6: Dichte Bewaldung mit Unterholz, durch welche nur schwer ein Durchkommen ist“, so dass auch ein einfacher Modifikator von +/-1 deutlichen Einfluss nimmt. Das macht auch Zufallstabellen mit wenigen Ergebnissen in verschiedenen Situationen anwendbar und erlaubt eine Beeinflussung der Wahrscheinlichkeiten, ohne sie laufend umschreiben zu müssen: in einer kargen Umgebung nimmt man den niedrigeren, in einer fruchtbaren Gegend den höheren von 2W6, verwendet aber jeweils die gleiche Tabelle. Auch könnte man z.B. zusätzliche Würfel mitwerfen, die genau dann gelten, wenn sie ein bestimmtes Ergebnis zeigen, um einzelne Einträge deutlich wahrscheinlicher zu machen. Gleichzeitig ist keine Tabelle in Stein gemeißelt sondern kann jederzeit von der Spielleiterin angepasst, Einträge ausgetauscht, oder vor allem mit Modifikationen aufgrund der Situation versehen werden – hierfür gibt es Vorschläge, aber keine starren Strukturen.

Komplexere Gebilde wie die schon genannten „zufälligen Inseln“ werden über mehrere Tabellenwürfe in Folge dargestellt – in diesem Fall 6W6, mit jeweils einem Ergebnis auf jeweils einer Tabelle für Größe, Küste, Topographie, Flora, Fauna und Bewohner. Auch hier ergibt die gemeinsame Interpretation der Würfe ein rundes Ergebnis, obwohl die Einzeltabellen sehr kurz sind – mit diesen 6 Würfeln hat man theoretisch 6^6 = über 46000 mögliche Ergebnisse, auf jeden Fall erheblich mehr Optionen, als man etwa auf einer detaillierten W100-Tabelle unterbringt.

Ein Beispiel für eine zufällige Insel mit 6W6:

Der Spielleiter wirft für eine neu entdeckte Insel 6W6 und erzielt 3, 2, 5, 5, 1, 2. Es handelt sich also um eine Mittlere (Größe 3) Insel mit kurzen Kiesstränden zwischen unzugänglicheren Felsabschnitten (Küste 2), die im Inneren der Insel zu einer steilen Gebirgslandschaft fast ohne Täler werden (Topographie 5). Dennoch herrscht eine dichte Bewaldung (Flora 5) vor, in der sich aber keine größeren Tiere finden lassen (Fauna 1), dafür Spuren einer früheren Besiedlung (Bewohner 2) – vielleicht in Form von überwucherten Ruinen oder lange verlassenen Höhlen. 

Wenn Ergebnisse auf den ersten Blick nicht zusammenpassen, können Würfe natürlich wiederholt oder einfach ein anderes Ergebnis ausgewählt werden – oder aber man nutzt die Gelegenheit zum Entwurf eines außergewöhnlichen, vielleicht übernatürlichen Schauplatzes. Wenn sich beispielsweise auf einer winzige Insel eine ganze bewohnte Polis findet, könnte diese vielleicht in zahlreichen natürlichen oder künstlichen Höhlen liegen. Ergebnisse, die nicht naheliegend sind, regen zum Nachdenken an („warum ist diese riesige, fruchtbare Insel mit reicher Tierwelt und sanften Hügeln unbewohnt?“) und helfen dadurch, Ideen für Geheimnisse und Plots zu entwickeln.

Zufallstabellen bei Pandora sollen damit ein Werkzeug für den Spielleiter sein, an das dieser wesentliche Entscheidungen abgeben kann – und sich dann vom Ergebnis zur Improvisation inspirieren lassen. Die meisten sind relativ kurz und eher abstrakt, können aber kreativ eingesetzt werden, sowohl zur Vorbereitung eines Spielabends als auch für zufällige Wendungen und Faktensetzungen während des laufenden Spiels.

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Was haltet Ihr von diesem Konzept? Welche Systeme (oder Sammlungen im Netz) kennt Ihr, die wirklich gute Zufallstabellen beinhalten? Nutzt ihr Zufallstabellen bei der Vorbereitung oder im Spiel?

2 Kommentare zu “Werkstattbericht 12: Zufallstabellen

  1. Colgrevance sagt:

    Ich sehe Zufallstabellen eher kritisch, da sie häufg recht willkürlich zusammengestellt sind oder zumindest so wirken – leider werden die Gedankengänge der Autoren selten so ausführlich dargestellt wie in diesem Artikel. Insofern danke für diesen Ansatz, der durchaus dazu führen könnte, dass ich mir Tabellen öfter mal anschaue! Einen mir wichtigen Punkt würde ich noch ergänzen: Ich finde Zufallstabellen vor allem hilfreich, um Begründungs- bzw. Rechtfertigungsdruck zu entgehen: Wenn ich ein sehr gefährliches Monster zufällig ausgewürfelt habe, besteht weniger Gefahr, dass mir Spieler eine böswillige Absicht oder schlechtes Balancing vorwerfen, als wenn ich dieses willkürlich auswähle.Das finde ich vor allem bei Gruppen, die sich nicht länger kennen (und bei denen das nötige Vertrauen in SL-Entscheidungen entsprechend geringer ist), gut geeignet, um einer negativen Stimmung am Spieltisch vorzubeugen.

    • RPGnosis sagt:

      Danke für den Kommentar – ja, in Zufallstabellen sollte man schon etwas Mühe investieren, damit sie im Spiel wirklich was bringen.
      Interessanter Punkt mit der „Rechtferttigung“!

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