Der Vorstellungsraum (3.2): Erzähltheorie und Rollenspiel

Lange ruhte diese Serie, mit der ich eine neue Theorie des Rollenspiels als Rollenspiel entwickeln will. Insbesondere, seit ich wieder etwas mehr Podcasts höre und „generische“ deutsche Rollenspielblogs (oder teilweise auch Systemforen) lese, fällt mir immer wieder auf, wie dringend notwendig eine stärkere theoretische Fundierung für häufig zerfaserte Argumentationen oder schlecht begründete Meinungsäußerungen wären – sowohl, um einen Erkenntnisfortschritt über unser Hobby, über Rollenspieldesign und vor allem auch die individuellen Spielweisen und Vorlieben zu generieren. Dieser (recht lange) Artikel will einen Überblick über den aktuellen Stand der Theorie des Vorstellungsraums geben sowie – quasi experimentell – die Parallelen zur Erzähltheorie aufzeigen, deren (ausgewähltes) Vokabular sich hierauf erstaunlich gut anwenden lässt.

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Eine kurze, persönliche Rückschau

In dieser Serie habe ich mich – teils im regen Austausch mit anderen Bloggern – dem spezifisch rollenspielerischen Konstrukt gewidmet, das unser Hobby von allen anderen Spielen ebenso wie von allen anderen Fiktionen, die rein zur passiven Rezeption gedacht sind (namentlich Literatur, Film und Theater), unterscheidet: der lebendigen Interaktion mit dem imaginierten Vorstellungsraum auf Basis von Spiel-Regeln. In früheren Teilen der Serie ging es zunächst um das Konstrukt des Vorstellungsraums an sich, und warum er individuell und nicht etwa von den Mitspielern „geteilt“ ist. Wir haben diskutiert, wie die Kommunikation zwischen Mitspielern zur Veränderung des VR funktioniert und wieso es hierbei oft knarzt, welche „Interessenkonflikte“ zur einer möglichst hohen Kongruenz der Vorstellungsräume gelöst werden müssen, und welche Konditionen jeder Einzelne zur individuellen mentalen Konstruktion seines VR und der darin entstehenden fiktionalen Handlung nutzen kann. Zuletzt ging es um unterschiedliche Zugangsweisen oder Perspektiven zum Mentalisieren und Erleben des Vorstellungsraums, was quasi ein „Teaser“ für den heutigen, umfassenderen Artikel war.

Ziemlich lange ist das jetzt schon her, in denen in der deutschen Rollenspielszene einiges passiert ist – viele neue Editionen großer Systeme sind erschienen (z.B. D&D 5, DSA 5, SR 6 und CoC 7), von neuen Spielen fange ich gar nicht erst an. Uhrwerk ging pleite und derrappelte sich wieder, Prometheus ist nach wie vor aktiv, Ulisses baut sein Portfolio immer weiter aus, aus jungen Verlagen wie System Matters kommen teils originelle neue Systeme (wie Ironsworn), während sich das Rad des Fate ein Setting nach dem nächsten überrollt. Debatten um Gender, Rassismus, Kulturalismus und kulturelle Aneignung sind in der Breite des Hobbies angekommen und hier produzieren auch die ganz großen hüben wie drüben zuverlässig Skandale. Die Blog-Landschaft ist gefühlt noch weiter geschrumpft als zu Zeiten der großen GooglePlus-Absaugung und wird immer nischiger, während youtube-Formate boomen und es auch deutlich mehr Podcasts gibt als früher. Und die Pandemie seit Anfang letzten Jahres hat dem digitalen Rollenspielgeschehen nochmal deutlichen Vorschub geleistet

Wirkliche regelmechanische Weiterentwicklungen in neuen oder neu editierten Systemen sucht man dagegen nach wie vor mit der Lupe und sie gehen in der oft willkürlich wirkenden Menge an Regeländerungen-die-es-halt-braucht-damit-man-eine-neue-Edition-rausbringen-kann oder das-machen-wir-halt-so-weil-schon-immer unter. Stattdessen nehme ich inzwischen immer häufiger ein stärkere Strukturierung des Spielgeschehens wahr, die das freie Rollenspiel bzw. generell Handlungsmöglichkeiten (zumindest implizit) einschränkt, den Spielablauf aber natürlich einfacher und vorhersehbarer machen. Inbesondere denke ich hier an „Downtime-Aktionen“, wie sie z.B. in HeXXen 1733 (als „Freizeitaktionen„) genutzt werden; diese wären aber mal einen eigenen Artikel wert.

An den großen Problemen der Rollenspielszene hat sich – zumindest in meiner Wahrnehmung – nicht wesentlich zum Besseren gewendet. Die Fragmentierung nimmt zu, gefühlt ebenso Systemhopping durch die Schwemme neuer Spiele, die doch meistens nur alter Wein in neu illustrierten Schlächen sind. Die Konsummentalität wird durch Crowdfunding mit ebenso überbordenden wie häufig spielerisch überflüssigen Stretchgoals und die Social-Media-isierung weiter befeuert. Hauptsache verkaufen und Reichweite generieren, spielerische Inhalte werden mit wenigen Ausnahmen immer unwichtiger gegenüber Aufmachung und Marketing. Warum ein vernünftiges Verlagsforum mit Struktur und Moderation betreiben, wenn man auch nur einen Discord-Server aufmachen kann? Vielleicht ist das auch nur ein unvermeidlicher Generationenwechsel der aktiven Spielerschaft, der aber durch die Sammler-statt-Käufer und Passivspielermentalität der Alteingesessenen sicher verstärkt wird. Doch genug des nostalgischen Rants – hier soll schließlich versucht werden, dem etwas entgegenzuhalten.

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Vereinigung der Gegensätze und Weitung der Perspektive

Ich war früher ebenfalls ein Vertreter der Theorie, dass es im Prinzip zwei Arten von Spielen gibt, die sich gleichermaßen Rollenspiel nennen, aber eine ein stark unterschiedliche Herangehensweise an das Spielgeschehen haben: klassische Rollenspiele, die auf Regeln fußen, welche die Spielweltrealität abbilden wollen oder sollen (was ich Spielwelt-Regel-Realismus oder SRR nannte), und Erzählspiele, bei denen Metaregeln maßgeblich für die aktive Veränderung des Vorstellungsraums sind. Aus dieser Perspektive werden eine ganze Reihe von Entwicklungen und Fehlentwicklungen des Rollenspieldesigns verständlicher, doch bildet sie – wie alle binären Zuspitzungen – die Komplexität der Realität nur unzureichend ab.

Die Theorie des Vorstellungsraums, die ich in den vergangenen Teilen dieser Serie zu entwerfen begonnen habe, macht deutlich, dass beide Strömungen eigentlich das gleiche wollen oder tun. Vergegenwärtigen wir uns hierzu nochmal die Definition von Rollenspiel, die ich im ersten VR-Artikel versucht habe:

  1. Rollenspielen ist ein Prozess, an dem sich Personen (Spieler) selbstzwecklich beteiligen.
  2. Das Spielgeschehen folgt dabei bestimmten Regeln.
  3. Kern des Spielgeschehens ist die (primär verbale) Interaktion der Spieler mit einem fantasiehaften (also individuell vorgestellten) Vorstellungsraum, der während des Spiels durch ebendiese Interaktion konstruiert wird.

Diese Definition zielt auf das konkrete Spielgeschehen am Tisch (oder auch virtuell) ab, wo die Gruppe beisammensitzt (oder jeder Spieler vor seinem PC) und eben verbal interagieren, um ihren VR zu konstruieren, darin eine Handlung entstehen zu lassen und generell versuchen, eine möglichst hohe Kongruenz mit den Mitspielenden zu erreichen, damit eine spannende Geschichte entsteht oder die Fiktion auf anderen Ebenen lustvoll erlebt werden kann. Gleichzeitig versuchte ich für mich in den letzten Monaten und Jahren immer mehr in den Blick zu nehmen und zu verbalisieren, inwiefern Rollenspiel wesentlich mehr ist als dass, was am (virtuellen) Spieltisch und in der direkten Interaktion der Mitspielenden passiert. Anklang findet sich in den Konditionen des Vorstellungsraums, die ich im zweiten Teil der Serie angerissen habe – das Spiel-Gespräch ist ein zentrales Element, aber nicht hinreichend für den Prozess des Rollenspiels. Individuelles Wissen über die (Spielwelt- und Meta-)Regeln, das Setting, „invisible rulebooks“ und andere implizite Erwartungen, die persönliche Präferenz der Perspektive, Spielweise et cetera pp. spielen ebenso in den Aufbau und Ablauf der Fiktion hinein wie auch viele Aspekte des Rollenspiels als Hobby von der Definition nicht erfasst werden – und die reichen von „Barbie-Spiel“ und „Personal Play“ (einen schönen Einstieg hierzu bieten Judith und Lena von Genderswapped) über freiwillige Beschäftigung mit (ungespielten) Rollenspielen oder Rollenspieltheorie und Austausch mit anderen Spielenden jenseits der eigenen Gruppe bis zum aktiven Gestalten oder gar Veröffentlichen eigener Abenteuer, Spielmaterial, Settings oder Systemen, Blogs, Videoformaten und so weiter. Kurz: ein Individueller Vorstellungsraum kann nicht nur beim aktiven Spielen in der Gruppe, sondern auch außerhalb davon individuell konstruiert, „bespielt und betreten“ werden. Rollenspiel als Hobby ist also wesentlich mehr als das, was am Spieltisch passiert – zumindest, wenn man kein Casual-Player ist.

Diese Weitung der Perspektive erfordert sicher nochmal einige längere Beschäftigung und Ausarbeitung, war aber ein wesentlicher Anstoß für einen weiteren Gedankengang, um den es in diesem Artikel geht, und der sich meiner Meinung nach eignet, sowohl verschiedene Spielstile wie Zugänge zum Vorstellungsraum wie Meta-Diskussionen und damit letztlich die zersplitterte Community mit ihren unnötigen Gräben wieder etwas näher zusammenzubringen.

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Gräben zuschütten: Erzähltheorie und Rollenspiel

Grundsätzlich kann man zwar immer skeptisch sein, wenn Rollenspiel mit Methoden oder Begrifflichkeiten aus Wissenschaften mit spezifisch anderem Untersuchungsgegenstand erläutert, „untersucht“ oder gar „weiterentwickelt“ werden soll – das Buzzword „cineastisch“ nehme ich mal als Negativbeispiel. Rollenspiel „irgendwie wie einen Kinofilm“ erschöpft sich leider oft in schlecht oder gar nicht begründeten, plakativen Forderungen nach Action, Ausblenden von „Unwichtigem“, Zeitraffung, Strukturierung des Spiels in Szenen oder „interessanten Charakteren“, anstatt differenziert auch die Unterschiede der Medien und Übertragbarkeit der Inhalte zu reflektieren. Dass der kritische Transfer von Begriffen aber auch produktiv sein kann, habe ich in der Vergangenheit z.B. in der Gegenüberstellung von Erzählformaten und Rollenspielweisen oder anhand von Tolkiens Begriff „secondary belief“ (der um Längen sinnvoller ist als die ebenfalls oft unhinterfragt eingeworfene „suspension of disbelief“) darzustellen versucht.

Auf den Vorstellungsraum als Zentrum meiner Theorie des Rollenspiels können aber noch weitere Konzepte aus der Narratologie (oder Erzähltheorie) angewendet werden, um zum Einen mehr begriffliche Klarheit zu schaffen, zum Anderen Parallelen zu den Wissenschaften zu ziehen, die sich schon deutlich länger mit Narration und Fiktion beschäftigen als Rollenspieltheoretiker und daraus vielleicht zu lernen. Auch wenn vieles davon wie gesagt nur bedingt sinnvoll ist – denn Rollenspielen ist ein grundsätzlich anderer Prozess, als ein Buch oder einen Film zu schreiben, inszenieren oder konsumieren – möchte ich an dieser Stelle ein paar Ideen der Erzähltheorie aufgreifen, da sie erstaunlich gut mit der Theorie des Vorstellungsraums harmonieren. Insbesondere auch deswegen, weil sie meiner Ansicht nach das nachzeichnen, was ich in vorangegangenen Artikeln (ohne ausführlichere Recherchen auf dem Gebiet der Narratologie) ebenfalls z.B. als unterschiedliche Zugangsweisen zum Vorstellungsraum herauszuarbeiten versucht habe. Und weil sie gleichzeitig dazu dienen können, den oft als prinzipiell angenommenen Unterschied zwischen klassischen Rollen- und Erzählspielen zu nivellieren und stattdessen ein Instrumentarium zur besseren Erklärung und Beschreibung verschiedener Spielweisen bereitzustellen.

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Diegese, Vorstellungsraum und Erzähler

Im Folgenden greife ich zunächst auf zwei Begriffe der Erzähltheorie zurück, die ich mit ihrem Bezug zum Rollenspiel bzw. Vorstellunsgraum erläutern möchte, ohne dabei weit in deren Untiefen abzutauchen. Studierte Literaturwissenschaftler mögen meine Ausführungen gerne ergänzen und kritisieren.

Der Wichtigste ist hierbei zunächst die Diegese: Häufig wurde hier schon über die Kluft zwischen Spielwelt und Spieltisch gesprochen, zwischen Spielwelt-Regeln und Spieltisch-(oder Meta-)Regeln, im LARP kennt man das Begriffspaar „in-game“ und „out-game“, und auch in der Erzähltheorie ist entscheidend, ob ein Merkmal oder Element eines Textes „intradiegetisch“ (also innerhalb der Erzählwelt, z.B. Orte, Protagonisten oder Ereignisse) oder „extradiegetisch“ (außerhalb der erzählten Welt, z.B. Darstellungsweise wie Kamerawinkel oder Zeitfluss) ist. Manche Narratologen bezeichnen als Diegese „eher ein ganzes Universum als eine Verknüpfung von Handlungen. Sie ist mithin nicht die Geschichte, sondern das Universum, in dem sie spielt“ (G. Genette, Die Erzählung). Der Begriff ist vielschichtig und wird bei verschiedenen Theoretikern mitunter unterschiedlich verwendet, für die Theorie des Vorstellungsraums zeigen sich jedoch erstaunliche Parallelen: Der Vorstellungsraum, das sind die intradiegetischen Inhalte des Rollenspiels, und zwar nicht nur die aktuell imaginierte Handlung in der aktuellen Spielrunde, sondern die komplette Spielwelt mit all ihren Facetten. Auf sie kann Tolkiens Konzept des secondary belief angwendet werden, also das Streben nach der „Wahrheit“ einer Erzählung (oder Handlung) wenn sie sich plausibel aus der Spielwelt (dem Vorstellungsraum oder eben den intradiegetischen Gegebenheiten) ergibt. Die Intradiegese ist das, worum es beim Rollenspiel geht: eine fiktionale Wirklichkeit zu erschaffen, zu betreten und gemeinsam einen bestimmten Ausschnitt davon zu „bespielen“, zu verändern, Handlungen in Gang zu bringen et cetera. Das ist der Kern des tatsächlichen Rollenspielgeschehens. Dabei gilt es eine reale Kluft zu überbrücken, denn wie wir wissen, „betreten“ wir die Spielwelt ja nicht wirklich, sondern nur in unserer Imagination, und beeinflussen sie im verbalen Austausch mit den Mitspielenden nach bestimmten Regeln. Wie in der Narratologie kommt dem „Erzähler“ der Geschichte eine zentrale Rolle zu, und hier zeigt sich der wesentliche Unterschied zwischen Rollenspiel und anderen Formen von Texten – wer ist eigentlich der Erzähler? Die Frage geht natürlich wesentlich weiter als die, ob ich von meinem Charakter in der „ich“- oder „er“-Form spreche. Der Erzähler im Rollenspiel ist der Spieler, bzw. die Spielgruppe (in den meisten Rollenspielen inklusive des Spielleiters, der hierbei meist eine herausgehobene Position mit mehr „Erzählrechen“ hat) – und gleichzeitig ist der Erzähler auch der Rezipient der Geschichte, die, im Gegensatz zu literarischen Texten, Film, Theater etc., auch nicht den Zweck hat, von Unbeteiligten konsumiert zu werden, sondern aktiv mitgestaltet und (meist einmalig) „erlebt“ zu werden, und zwar als ein Protagonist der Handlung (also intradiegetisch).

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Die zwei Ebenen des Rollenspiels und der Zweck von Regeln

Das Rollenspielgeschehen findet dabei auf zwei Ebenen statt: intradiegetisch im Vorstellungsraum und extradiegetisch am Spieltisch. Der Zweck von Spielregeln (unabhängig davon, ob sie spielweltverknüpft (associated) oder spielweltunabhängig (dissociated) sind) ist immer die Vermittlung zwischen diesen beiden Ebenen. Auch spielweltverknüpfte Mechaniken stellen hierbei nicht „die imaginierte physikalische Realität“ des Vorstellungsraums dar, sondern sind eine Abstraktion zur Strukturierung desselben in handhabbare Termini, die man am Spieltisch interpretieren und mit denen man – am Spieltisch – weiter arbeiten kann. Zwar macht die Unterscheidung zwischen Spielwelt- und Spieltisch-Regeln, die ich in einem früheren Artikel als Konditionen des Vorstellungsraums dargestellt habe, nach wie vor Sinn, jedoch sollte man daraus keinen Graben zwischen klassischen Rollen- und Erzählspielen konstruieren. Denn auch bei erzählerisch orientierten Spielen, die primär spielweltunabhängige Mechanismen verwenden, dienen diese dem Zweck der Strukturierung des Vorstellungsraums (bzw. meist vor allem der Handlung und Handlungsmöglichkeiten der Protagonisten darin). Auch wenn ihr Fokus oft extradiegetisch ist (Fate-Punkte haben keine plausible Entsprechung in der Spielwelt, Astralpunkte schon), verfolgen sie den gleichen Zweck – die Übertragung des Gesprächs am Spieltisch in Fakten, Ereignisse etc. der Spielwelt und andersherum.

Jedes Rollenspiel hat sowohl spielweltverknüpfte (SV) als auch spielweltunabhängige (SU) Regeln, allein hieran lässt sich also keine binäre Einteilung von Systemen machen. Vielmehr muss jede Struktur und jede Mechanik einzeln betrachtet werden. Am Beispiel DSA: Astralpunkte sind ein Maßstab für die Fähigkeit, magische Effekte zu generieren – Astralenergie ist eine Größe in der Spielwelt, die für Regelzwecke in Punkten gemessen wird, von denen Zauber unterschiedlich viele verbrauchen: ein Paradebeispiel für eine SV-Mechanik. Die Generierung und Entwicklung eines Charakters erfolgt dagegen (seit zwanzig Jahren) über ein Punktekonto (in DSA 4 mit Generierungspunkten und Abenteuerpunkten oder in DSA5 nur mit Abenteuerpunkten), die keine direkte Entsprechung in der Spielwelt haben – die Generierung dient der Festlegung von Werten und ist ein Prozess der rein am Spieltisch (oder bei der Vorbereitung durch den SL) stattfindet, ebenso wie Abenteuerpunkte ein Belohnungselement sind, das kaum mit der Abbildung von „realistischem Lernen“ innerhalb der Spielwelt zu tun hat. Was rauskommt, hat aber handfeste Auswirkungen im Vorstellungsraum, nämlich veränderte Werte der Protagonisten und NSC – das sind SU-Regeln. Weder das eine noch das andere machen DSA aber zu einem klassischen Rollen- oder Erzählspiel – vielmehr ist entscheidend, wie die Gruppe im Spiel die vorhandenen Regeln anwendet und welche Modi (siehe unten) die einzelne Spielerin dabei einnehmen kann.

Regen sind ein Element, das in der Erzähltheorie in dieser Form scheinbar nicht vorkommt, doch gibt es Parallelen und Entsprechungen. Tolkiens Secondary Belief beispielsweise ist im Grunde ähnlich meinem Anspruch eines Spielwelt-Regel-Realismus und zielt darauf ab, dass der Vorstellungsraum sich plausibel verhält – für mich eine Grundvoraussetzung für immersives Rollenspiel. Genrekonventionen mit ihren Topoi und Strukturen lassen sich im Grunde als SU-Regeln interpretieren, indem sie Handlungen und Personen im Vorstellungsraum einen Rahmen „des Üblichen und Erwarteten“ geben: wir spielen „Moderne Action“, da gehört es dazu, dass die Kämpfe von geschliffenen Dialogen und „kreativem Umgebungseinsatz“ unterbrochen werden, dass man es mit den bekannten Gesetzen der Physik nicht so genau nimmt, und außerdem die benutzte Waffe keine große Rolle spielt.

Theoretisch kann ein Rollenspiel auch ganz ohne spielweltverknüpfte Mechaniken funktionieren – allein, dadurch wird die gesamte Last der „intradiegetischen Wahrheitsfindung“ der Einschätzung des Spielleiters aufgebürdet, beziehungsweise muss auf die Kongruenz der „invisible rulebooks“ (also der impliziten Annahmen über das Funktionieren der Spielwelt, meist auf Basis von realweltlichem Wissen bzw. Annahmen) gehofft werden. Beides ist tückisch, und es hat seinen guten Grund, warum es Spielweltregeln gibt, die festlegen, wie etwa Kämpfe oder andere klassische Konfliktsituationen ablaufen: denn derlei Regeln, die unter dem Anspruch stehen, den Vorstellungsraum (im weitesten Sinn) plausibel abzubilden, ersparen unnötige Diskussionen und Anwendung des Rechts des Stärkeren (sie dies argumentativ, durch SL-Rolle oder sozialen Status) zur Auflösung. „Ich hab dich getroffen, du bist tot“ – „nein, bin ich nicht, du hast nur meine Rüstung getroffen“ – „nein, ich hab auf eine Lücke gezielt“ – „war trotzdem nur eine oberflächliche Wunde, mein Charakter greift jetzt dich an“ und so weiter; solche Diskussionen sind häufig Teil von Entwicklungs-Rollenspielen bei Kindern, sollten aber in einem Pen & Paper-Rollenspiel vermieden werden, da sie erstens den Spielfluss bremsen und zweitens nur selten (zumindest der im Disput unterlegenen Seite) Freude bereiten. Zwar können auch extradiegetische, spielweltunabhängige Regeln solche Konflikte lösen, allerdings nicht auf eine Weise, die immersives Rollenspiel fördert, denn dieses bedeutet, Entscheidungen primär aus der Perspektive des Charakters zu treffen, der dafür auf sein Erfahrungswissen über die ihn umgebende Spielwelt zurückgreift.

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Erzähltheoretische Modi statt Spielertypen

Ausgehend von den obigen Überlegungen und den vorangegangenen Artikeln bin ich der Ansicht, dass Spielertypen-Modelle wie die bekannten von Laws ebensowenig die wirklich relevanten Unterschiede zwischen favorisierten Spielweisen abbilden wie die Klassifikation von Rollenspielen in „erzählerisch orientierte“, „klassische“, „oldschoolige“, „moderne“ und so weiter. Man kann auch Schwergewichte wie DSA4 „erzählerisch“ spielen, indem man einfach den Großteil der Regeln weglässt und auf Rulings der Spielleitung setzt, ebenso wie man versuchen kann (und damit scheitern wird), die Handlungen seiner Protagonisten in Systeme mit einer Vielzahl von SU-Mechanismen allein intradiegetisch zu begründen – zumindest, wenn man konsequent die Regeln anwendet: Wenn man halt kaum mehr Blöcke im Jenga-Turm hat, ist die Wahrscheinlichkeit auch für Revolverheld Rick („Der Schnellste Colt diesseits des Rio Pecos“), der schon ein Dutzend Duelle gewonnen hat, sehr hoch, ins Gras zu beißen – nicht, weil er nicht gut genug ist, sondern weil die Metaregeln von Dread eine spielweltunabhängige Auflösung von Konflikten (durch Ziehen von Jengaturm-Steinen) vorsehen. Und die OSR promotet ja Systeme, die regeltechnisch oft sehr schlank sind, ihren mechanischen Fokus auf Kampf und „Crawling“ (Dungeon- oder Hex-) legen, und dabei gleichzeitig eine sehr starke Betonung des extradiegetischen („Spieler- statt Charakterskills“, Funnel, Ressourcenverwaltung und so weiter) haben.

Die Frage, ob man das intra- oder extradiegetische Elemente beim Rollenspiel bevorzugt, erschöpft sich aber bei weitem nicht in der Regelanwendung, vielmehr gehört hierzu wesentlich auch die bevorzugte Perspektive beim Erleben und Verändern des Vorstellungsraums.  Diese halte ich für einen entscheidenden Punkt in der Charakterisierung von Spielweisen, denn davon hängt eine ganze Menge ab. Wer den Vorstellungsraum bevorzugt in der ersten Person bereist, hat einen starken Fokus auf das intradiegetische; die Persönlichkeit und Erfahrungen des Charakters stehen für dessen Handeln im Mittelpunkt, ebenso sein Weltwissen, das sich letztlich auf SV-Mechanismen stützen sollte. In der Erzähltheorie würde man das eine autodiegetische Perspektive nennen – der „Erzähler“ ist Teil der Handlung. Wer dagegen seine Figur im Vorstellungsraum lieber „von außen“ betrachtet (als in der dritten Person spielt), nimmt eine homodiegetische Haltung ein – der „Erzähler“ ist in diesem Fall mehr der Spieler, sein Charakter als Figur der Handlung zwar präsent, aber eher von außen (und meist mit vermehrtem Blick auf extradiegetische Bereiche wie z.B. Genrekonventionen, Plotentwicklung etc.) gesteuert. Die apersonale Perspektive (heterodiegetisch bzw. auktorial) ist in der Regel die des Spielleiters – er kommt in der fiktiven Welt, dem Vorstellungsraum, selbst nicht vor, wenngleich er immer wieder – homodiegetisch in die Rolle verschiedener Personen in der Spielwelt schlüpft.

Parallel dazu steht die Fokalisierung als erzähltheoretisches Äquivalent der Unterscheidung zwischen Spieler- und Charakterwissen, ebenfalls einem meiner Ansicht nach unterschätzten Bereich beim Versuch, Spielertypen oder Spielweisen zu charakterisieren (über den Begriff des Metagamings werde ich beizeiten einen eigenen Artikel schreiben), dabei ist sie geradezu essentiell für das Handeln der Figuren im Vorstellungsraum. Klassisches, charakterimmersives Rollenspiel lebt von „Interner Fokalisierung“, das heißt, das Wissen der Figur und das Wissen des Erzählers (= Spielers) sind etwa deckungsgleich. Der Spieler entscheidet über die Handlungen seines Charakters auf Basis von dessen Wissen, ohne dabei wesentlich auf (extradiegetisches) Metawissen zurückzugreifen. Dem gegenüber steht die „Nullfokalisierung“, bei welcher der Spieler/Erzähler mehr weiß als seine Figur. Diese entspricht einer Steuerung der Spielfigur auf Basis von extradiegetischem Wissen, z.B. der angewandten Regeln. Die wenigsten DSA4-Aventurier würden wahrscheinlich auf den ersten Blick Streifenschurz, Fellumhang, Hartholzharnisch und Schaller als Rüstung favorisieren, allein als Spieler, der die Rüstungsregeln kennt, weiß man diese Kombination als bestmögliches Schutz-zu-Behinderungs-Verhältnis zu schätzen und wählt sie entsprechend für seinen Charakter aus. In der Erzähltheorie beschreibt diese Fokalisierung den auktorialen, allwissenden Erzähler, den es im Rollenspiel per Definition nicht geben kann, da sich hier die Handlung erst durch das Spielen entwickelt. Die Sonderposition der „Externen Fokalisierung“, bei welcher der Erzähler weniger weiß als seine Figur in der fiktiven Handlung, spielt beim Rollenspiel ebenfalls eine Rolle – interne und externe Fokalisierung wechseln sich im Regelfall situativ immer wieder ab, beispielsweise, wenn der Spieler eine Wissens-Probe für seinen Charakter würfeln darf, auf Basis dessen er als Erzähler das Wissen erhält, das sein Charakter schon hat, er als Spieler vielleicht vorher jedoch noch nicht.

Das narratologische Konzept der Mittelbarkeit spielt eine Rolle für die Immersivität (zumindest für die Charakter- und Spielweltimmersion) des Rollenspielgeschehens. Sie beschreibt die Kongruenz zwischen dem Erleben und Verhalten des Erzählers und der Handlung im Vorstellungsraum. Eine so gering als mögliche Distanz etwa haben Dialoge zwischen Spielenden in direkter, autonomer Figurenrede, also wenn der Charakter direkt „verkörpert“ wird und das Gespräch am Spieltisch genau so abläuft wie in der Spielwelt. Dieser sogenannte „dramatische Modus“ kann aufs Rollenspiel ergänzt werden auf Charakter-Handlungen, die direkt beschrieben und ohne weitere Modifikation in die Vorstellungsräume der Mitspieler integriert werden – meiner Ansicht nach unabhängig davon, ob dabei Spielweltmechaniken angewandt werden oder nicht. Auch ein ausgewürfelter Kampf beispielsweise kann als Spiel im dramatischen Modus beschrieben werden, sofern er (soweit als möglich) frei von Metaregeln und „off-game“-Kommunikation (z.B. Beratungen zwischen Spielerinnen, was am besten als nächstes zu tun sei) bleibt. Auch jedes „show, don’t tell!“ gehört hierzu, also z.B. mimischer Ausdruck oder schauspielerische Einlagen. Am anderen Ende der Skala steht der „narrative Modus“, in dem das Geschehen im Vorstellungsraum vom Erzähler abstrahiert wird – beispielsweise jede Zeitraffung („Die Fahrt von Seattle nach Hong Kong verläuft ohne Zwischenfälle“), aber auch „nicht ausgespielte“ Gespräche („wir kaufen auf dem Markt zwölf Fackeln und zwanzig Rationen Proviant“) oder kompliziertere Vorgänge in „Downtimes“ (wie die Erschaffung eines Artefakts, die mittels einer komplexen Regelmechanik anstatt ausführlicher Beschreibung von Herstellung und Ritualzauber abgehandelt wird).

Hierbei scheint mir sehr wichtig wichtig, dass die gleiche Spieltisch-Kommunikation von verschiedenen Spielern als in unterschiedlicher Distanz erlebt werden kann: wer beispielsweise plausible Kampfregeln gut beherrscht, kann auch aus vermeintlich „trockener“ Kommunikation („ich kontere seinen Angriff mit einer Windmühle – geschafft, 16 Schaden“ – „der Ork fällt durch dein Manöver“), eine lebendige Szene in seinem Vorstellungsraum imaginieren, diese quasi dramatisch erleben, während ein wenig regelversierter Spieler vielleicht gar nicht wirklich versteht, was gerade passiert, oder für eine vergleichbare Aktion so viel Zeit und Nachschlagen braucht, dass er dafür keine dramatische Imagination aufbauen kann. Die Mittelbarkeit (und damit Immersivität) ist also nicht unwesentlich eine Frage des Flows, der durch Kenntnis des Regelsystems positiv beeinflusst wird.

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Erzähler = Spieler = Publikum

Die obigen Grundbegriffe der Erzähltheorie passen meiner Ansicht nach außergewöhnlich gut auf die Theorie des Vorstellungsraums, und ich hätte mich vielleicht früher schon mit diesem Gebiet beschäftigen sollen. Diskutabel bleibt zunächst aber noch die Frage, wer der „Erzähler“ beim Rollenspielen ist. Auch wenn ich es oben der Einfachheit halber so impliziert habe, kann dies letztlich nicht nur der einzelne Spieler sein – der Unterschied zwischen Literatur, die passiv rezipiert wird (wenn auch ebenfalls durch Imagination des Gelesenen), und der aktiven Entwicklung und Beeinflussung der imaginierten Handlung beim Rollenspiel ist fundamental. Auch die Analyse des letzteren ist deutlich schwieriger, da man eben kein Drehbuch, Theaterskript oder gar einen geschriebenen Roman vor sich hat, den man mehrfach lesen, zurückblättern und den Inhalt genau sezieren kann – Rollenspielen ist ein Prozess und kein literarisches Werk, das nach seiner Erschaffung von beliebigen Leuten auf verschiedenste Weisen rezipiert werden kann. Spieler sind sowohl Erzähler der Handlung im Vorstellungsraum als auch Rezipienten der Geschichte, und zwar in unterschiedlichem Maße je nach ihrem Einfluss auf die Vorstellungsräume – schlicht aufgrund der in vorherigen Artikeln beschriebenen nötigen Kommunikation und Abgleichung der Vorstellungsräume aller Beteiligten am Tisch. Jeder Spielende kann dabei eine auktoriale Erzählrolle für Elemente seines Vorstellungsraums einnehmen, die entweder nicht (für alle Spielenden) spielrelevant sind (wie genau sich Spieler A den Basar von Khunchom, über den sein Held gerade schlendert, vorstellt, ist seine Sache – ob da links gerade ein Gemüsehändler oder Kupferschmied steht, ist in den allermeisten Fällen nicht von Belang, solange der Spielleiter nicht entsprechend anderes vorgibt), für das Innenleben des Charakters (das anderen Bewohnern des VR ebenfalls nicht objektiv zugänglich ist) oder, in geringerem Maß, für die Handlungen seines eigenen Charakters: „ich schlendere über den Basar“. Die Frage der Erzählperspektive bzw. -haltung ist wichtig, um die Kommunikation beim Rollenspiel zu verstehen: der Spielleiter spielt wahrscheinlich selten NSC aus der Ich-Perspektive (autodiegetisch), ohne extradiegetische Aspekte (Wie wichtig ist dieser NSC für das Abenteuer? Was sollten die Charaktere hier herausfinden können? Können wir uns beim Dialog Zeit lassen, da es erst 21 Uhr ist und wir noch drei Stunden Zeit haben bis zum geplanten Ende dieser Episode?) mit zu bedenken. Eine autodiegetische Erzähl- und Erlebnisweise auf Spielerseite benötigt zuverlässigen relevanten Input sowohl vom Spielleiter als auch von den Mitspielern, damit eine Kongruenz der Vorstellungsräume hergestellt und Entscheidungen darin auf Basis aller relevanten Informationen („Wie, die Stadtwache hat Blut am Hemdkragen? Dann hätte ich aber ganz anders…“) aus Charaktersperspektive gefällt werden können. Sprich: Erzähler sind alle Mitspielenden und zwar nicht nur für sich, sondern für jeden einzelnen Anderen am Tisch – Aussagen der Spieler müssen in den eigenen VR integriert werden können, wobei es zu in früheren Artikeln genannten Problemen kommen kann. Und zwar zu spezifischen Rollenspielproblemen, die es in der Literatur in dieser Form nicht oder nur in Ausnahmefällen: wie dem von unplausiblen oder widersprüchlichen Handlungen, die einen secondary belief zerstören und suspension of disbelief nötig machen – was wiederum die Spielenden zu einem Umschalten in allen oben genannten erzähltheoretischen Modi (insbesondere der Fokalisierung: „Laut Abenteuer muss das jetzt so sein, mein Charakter muss halt grad nicht dran denken, was die bessere Option wäre.“

Der laufende Austausch zwischen den Spielenden, das Rollenspiel-Gespräch, sorgt also dafür, dass jeder sowohl als Erzähler für alle am Tisch (für die Handlungen seiner Figur bzw. als Spielleiter für das Verhalten der Spielwelt) fungiert, als auch Rezipient oder „Publikum“ für alle Aussagen der Mitspielenden, die er gleichwohl in den eigenen Vorstellungsraum (hoffentlich mit möglichst wenig Inkongruenz durch anders gelagerte Konditionsvorlieben, schlechte Regeln etc.) reintegriert und somit die Handlung weiterentwickelt. Zusätzlich gibt es noch den Spezialbereich, in dem jeder Einzelne sein eigener Erzähler für sich selbst als Publikum ist: nämlich dabei, wie er sich den Vorstellungsraum konkret imaginiert und für die Dinge, die nur individuell seinem Charakter zugänglich sind, sein Empfinden, Denken etc., und wo es die eigene Entscheidung ist, wieviel man davon den Mitspielern zugänglich macht. Dieser Aspekt des Rollenspiels, das „Erzählen für für sich selbst als Publikum“, verdient sicher auch nochmal eine ausführlichere Betrachtung (und wurde auch von Genderswapped bereits aufgegriffen).

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Zusammenfassung und Ausblick

Ich habe in obigem Text versucht zu zeigen, dass die Erzähltheorie ein etabliertes Vokabular hat, das sich auf viele hochrelevante (und in der „Rollenspieltheorie“ eher unterrepräsentierte) Aspekte (wie genannte Distanz, Fokalisierung und Mittelbarkeit) des Rollenspiels treffend anwenden lässt, wobei aber aufgrund der Natur des Rollenspiels (als einer Erzählung, die live von ihren eigenen Rezipienten geschaffen wird) viele Fragen noch offen bleiben. Beispielsweise der Zusammenhang zwischen der Anwendung von „Konfliktregeln“ im weiteren Sinn, die für einen Zufallsfaktor im Ablauf der Handlung im Vorstellungsraum sorgen, und der Erlebnisqualität der Mitspielenden, oder eine genauere Verquickung von Erzähltheorie mit den Konditionen des Vorstellungsraums, vielleicht auch eine Erweiterung meiner oben genannten Arbeitsdefinition von Rollenspiel. Und das Ziel dieses Theoretisierens sollte mittelfristig natürlich eine konkrete Nutzbarmachung z.B. in Form von Spieltipps und Reflektionshilfen sein – etwa um sich selbst und seine bevorzugte Spielweise in den erzähltheoretischen Konstrukten besser zu verstehen und verorten zu können, um sich damit vielleicht auch bei der Auswahl von Mitspielern leichter zu tun als nur über die Frage „bist du eher Powergamer oder Storyteller?“. Und natürlich, um bei der Auswahl (oder beim Design) von Rollenspielen die richtigen Fragen zu erleichtern, etwa welche Spielaspekte eher intra- oder extradiegetisch abgebildet werden sollen, welche Spielmechanismen welche Form von Mittelbarkeit oder Fokalisierung fördern oder einschränken, oder wie sehr die Regelanwendung ein autodiegetisches Spiel unterbricht: ein großangelegtes soziales Konfliktsystem ist halt schon was anderes als eine einfache Überreden-Probe mit einem Modifikator nach Spielleiterentscheid.

Aufgrund der Länge dieses Artikels möchte ich an dieser Stelle vorerst enden. Obige Überlegungen sind das Resultat schon länger gärender Gedanken, von denen ich einige hier noch nicht aufgreifen konnte. Insbesondere die Themen „Personal Play“ und „Rollenspiel als Hobby“ treiben mich seit einiger Zeit um und bitten um eine Verknüpfung mit der Theorie des Vorstellungsraums; diese Aspekte sind aber so umfassend, dass ich noch einige Zeit brauchen werden, um sie für mich selbst zu ordnen und klarer in Richtung „Hang zur Phantastik und Eskapismus allgemein“ abzugrenzen.

Wie immer freue ich mich über jede Kritik und Ergänzung, gerne auch von in der Narratologie beleseneren Personen und hoffe, Ihr konntet ein paar interessante Gedanken für euch mitnehmen.

 

3 Kommentare zu “Der Vorstellungsraum (3.2): Erzähltheorie und Rollenspiel

  1. Jan sagt:

    Moin,

    ich kenne mich mit den Themenbereichen und Fachbegriffen nicht wirklich aus, aber so wie du es schilderst klingt es schlüssig für mich und passt auch zu meinen Spielerfahrungen. Einzig bei dem Teil über auto-/homodiegetisch blieb bei mir ein Fragezeichen zurück. Ich habe bei mir in der Gruppe Spieler, die sich nicht daran beteiligen möchten die Spielwelt als Spieler mitzugestalten (so, wie es Dungeon World z.B. vorsieht, beispielsweise beim Wissenswurf und der Folgefrage des SLs, woher man das Wissen hat). Gleichzeitig spielen sie aber normalerweise in Character. Ist das ein Widerspruch oder einfach „eine andere Skala“?

    Gruß,
    Jan

    • RPGnosis sagt:

      Würde ich als autodiegetisch beschreiben – der Erzähler als Charakter, spielen in der Ich-Perspektive. Gerade bei der Mitgestaltung des Vorstellungsraums jenseits des Erlebens und Verhaltens des eigenen Charakters ist mAn die Fokalisierung entscheidender, nämlich ob die Spielfigur aufgrund eher von in-game- (intern fokalisiert) oder off-game-(nullfokalisiert)Faktoren bestimmt werden. Inwieweit die Spieler überhaupt den VR abseits vom eigenen Charakter beeinflussen können, ist mAn vor allem eine Frage danach, inwieweit die Spielregeln eine extradiegetische, auktoriale Erzählung durch die (Charakter-)Spieler ermöglichen. Im klassischen Rollenspiel hat ja nur der SL diese Rolle; modernere Spiele lassen die Spieler zumindest oft mit-entscheiden, z.B. durch Gummipunkte für „glückliche Zufälle“.

      Dein Beispiel von Dungeon World ist mAn eher eine zeitliche Verlagerung der Erstellung des Charakterhintergrunds ins Spiel als eine grundsätzlich andere Spielmechanik als ein „normaler“ Wissenswurf.

      Die Erzählperspektiven bzw. alle genannten Begrifflichkeiten zielen nicht nur auf eine Beschreibung des Charakterspiels ab, sondern allgemein auf jede Modifikation des Vorstellungsraums. Ob das Verändern desselben abseits des eigenen Charakters im gewählten System überhaupt möglich ist, ist mAn keine Frage der narratologischen Beschreibung, sondern des verwendeten Regelsystems und welche Möglichkeiten hierzu die einzelnen Mitspieler haben. In einem größeren Rahmen betrachtet ist aber natürlich auch bereits die Besprechung mit dem SL in einer Session 0, welche Inhalte oder Themen man gerne hätte, wieviele Kämpfe, wie soziale Konflikte gewürfelt werden etc. eine Beeinflussung des (künftig im Spiel aufzubauenden) Vorstellungsraums. Rollenspiel ist viel mehr als das, was direkt am Spieltisch stattfindet – dazu aber auch in einem späteren Artikel mehr.

      Danke für den Kommentar!

      • Jan sagt:

        Ah, die Auslegung das als nachträgliche Definition des Charakterhintergrundes zu betrachten kam mir noch nicht in den Sinn. Das muss ich mir merken.

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