Taktische Entscheidungen auf Charakter- und Spielerebene (Karneval der Rollenspielblogs)

Logo_RSPKarneval_250pxEs ist, wie jeden Monat, Karneval, der diesmal vom geschätzten Kollegen Sorben von Gelbe Zeichen ausgerichtet wird. Zu diesem ergiebigen Thema könnte man sehr, sehr viele Seiten füllen – auch ich habe zuerst über einen Beitrag über die Kriegsführung in der Antike nachgedacht (speziell über den in der Forschung kontrovers diskutierten Othismos als klassisches Hoplitenmanöver), aber als ich die Karnevals-Beiträge von Chaotisch Neutral las, speziell den zweiten Vom Kriege, sah ich eine Steilvorlage zu einem der wichtigsten rollenspieltheoretischen Themen hier auf dem Blog – nämlich (Ihr ahnt es…) der Bedeutung von Regeln in ihrer Funktion als Mittler zwischen Vorstellungsraum (Spielwelt) und Spieltisch. Gewissermaßen verknüpft dieser Beitrag meine beiden Artikelserien Regeln im Rollenspiel und Der Vorstellungsraum auf Basis des Gedankens vom Spiel als taktischer Herausforderung – und der Frage, auf welcher Ebene diese taktischen Entscheidungen angesiedelt sind.

Der Ausgangspunkt

Auf Chaotisch Neutral wird Clausewitz‚ Lebenswerk Vom Kriege kurz vorgestellt, und insbesondere drei Textpassagen möchte ich hier voranstellen und deren Inhalt im Folgenden diskutieren.

„[Das] Werk von Carl von Clausewitz mit dem Titel Vom Kriege […] verhält sich in etwa zu Die Kunst des Krieges von Sunzi wie GURPS zu Savage Worlds. Während Sunzi sehr generelle Ansichten vermittelt und selten ins Detail geht, formuliert von Clausewitz eine feingliedrige Unterteilung seiner Thesen zu Strategie und Taktik. […] Clausewitz hielt die Verteidigung für die überlegene Kampfform, da sie in seinen Augen ressourcenschonender als der Angriff war. Dies hat natürlich mit der zu seiner Zeit verfügbaren Technologie zu tun und ist heutzutage mindestens einmal zu hinterfragen. Dennoch kann für das Rollenspiel am Tisch hieraus die Erkenntnis gewonnen werden, dass beide Formen eklatante Unterschiede in ihrer Taktik aufweisen. Clausewitz breitet dies auf vielen Seiten aus und wer nachlesen möchte, wie bspw. der Angriff von Morästen, Überschwemmungen und Wäldern funktioniert, der kann das in Vom Kriege finden. Gleiches gilt dann auf der anderen Seite für die Verteidigung derselben. […] Zu guter Letzt ist Vom Kriege erheblich schwerere Kost als Von der Kunst des Krieges. Während letzteres durchaus für fast alle Spielleiter interessant sein könnte, so ist das Werk von Clausewitz wohl eher für richtige Simulationsspieler interessant, deren Gruppen Spaß an taktischen Herausforderungen auf der Battlemap haben. Für diese allerdings hält das Buch einiges bereit.“

Auf den ersten Blick ist dem Beitrag zuzustimmen, auf den zweiten springt uns eine verborgene Prämisse an, die höchst entscheidend für taktische Entscheidungen speziell im Rollenspiel ist.

Voraussetzung, Forderung und Folge: Was man tut, macht einen Unterschied.

Angenommen, ich bin „Simulationsspieler“ im Chaotisch Neutralen Sinne – das heißt, dass es bei meinem Rollenspiel beispielsweise einen Unterschied macht, ob mein Charakter auf offenem Feld oder im Morast kämpft, bei Tag oder Nacht, in Regen oder Sonnenschein – ja selbst, ob er einen Angriff oder eine Verteidigung durchführen will, sollte einen Unterschied machen. Auf den ersten Blick klingt das vor allem nach einem sehr ausgefeilten, kleinteiligen Kampfsystem mit einer Menge Modifikatoren – auf den zweiten steckt dahinter aber eine wesentlich allgemeinere Forderung an das Regelwerk eines Rollenspiels: nämlich die,  dass es einen spielerisch relevanten Unterschied machen soll, wie mein Charakter handelt bzw. wie ich als Spieler entscheide, dass mein Charakter handeln soll. Ein spielerisch relevanter Unterschied kann sich in einfachen (z.B. ein Bonus von +2 auf Angriffswürfe durch eine erhöhte Position) bis komplexen (z.B. ein zusätzlicher, unparierbarer Angriff aus dem Hinterhalt) Regelmechaniken niederschlagen, möglicherweise aber auch in einer völligen Veränderung der Spielweltsituation (die einen Kampf und damit weitere taktische Entscheidungen sogar überflüssig machen kann, z.B. „eurer Ablenkungsmanöver mit dem Feuer an der Scheune gelingt – die Banditen eilen davon, um zu löschen, und der Weg ins Haupthaus ist frei!“) oder in einer Kombination aus Spielweltfakten und Regelanwendung (z.B. „aufgrund deiner geschickten Positionierung an der Tür können nur zwei Feinde gleichzeitig gegen dich kämpfen“). Natürlich geht der Anspruch im Detail noch wesentlich weiter – es sollte auch einen Unterschied machen, welche Waffe man führt, ob man leicht oder schwer gerüstet in den Kampf zieht, welche Aktionen und Manöver man wählt und so weiter. Grundsätzlich lässt sich diese Forderung (bei Chaotisch Neutral als „Simulationsspiel“ bezeichnet) aber darauf herunterbrechen, dass taktische Entscheidungen im Spiel einen Unterschied machen sollen – beispielsweise die eigenen Siegeschancen zu verändern. Ich behaupte: Es geht hier im Kern aber nicht nur um einen Anspruch des „Simulationsspielers“, sondern des Rollenspiels ganz allgemein. Denn das Beispiel des Kampfes als Reihe taktischer Entscheidungen (oder auch sein Übergebäude, der Krieg mit seinem strategischen Entscheidungen) ist nur ein Sonderfall eines viel basaleren Prinzips: nicht nur auf einen Konflikt bezogene Entscheidungen, sondern jede handlungsrelevante Entscheidung eines Spielers am Spieltisch sollte sich in einer (zumindest potentiellen) Veränderung des Vorstellungsraums wiederfinden können. Das ist die wesentliche Komponente, die Rollenspiel von z.B. einer Theateraufführung unterscheidet, und wo der Spiel-Charakter des Ganzen deutlich wird. Ich möchte trotzdem am Kampf als Beispiel festhalten, da sich hier auch der Regelbezug dieser Forderung am einfachsten klarmachen lässt. Wenn es regeltechnisch keinen Unterschied macht, ob ich bei Tag oder Nacht kämpfe, den Gegner aus dem Hinterhalt angreife oder ihm in dreifacher Unterzahl begegne, ob ich Schwert und Schild führe oder mit bloßen Fäusten kämpfe, wo ist dann der Anreiz, überhaupt solche „Entscheidungen“ zu treffen? Wenn ein Rollenspielsystem für jeden Konflikt nur genau eine regeltechnische Abwicklungsmöglichkeit vorsieht (z.B. einen vergleichenden Wurf ohne Modifikationen), wieso sollte ich als Spieler mir dann überhaupt Gedanken über die Ausgestaltung meiner Charakterhandlung, sprich, den Aufbau und Modifikation des Vorstellungsraums, machen? Je „gröber“ und „abstrakter“ ein Regelsystem ist, desto größer ist die Gefahr, dass Spielerentscheidungen keinen regeltechnischen Niederschlag finden und damit keinen Unterschied machen – klassische taktische Abwägungen oder Pläne sind dann bestenfalls ein Element zur Charakterdarstellung und Selbstbespaßung. Bestenfalls deshalb, weil durch die Nicht-Abbildung der Konsequenzen taktischer Entscheidungen in Regelmechaniken – meiner Ansicht nach – die Konsistenz des Vorstellungsraums insgesamt bedroht ist. Und zwar deswegen, weil der Ausgang einer Handlung dann ausschließlich vom Würfel (oder einem beliebigen anderen Konfliktlösungsmechanismus) abhängt, die Erfolgschance derselben aber keine Rücksicht darauf nimmt, ob Spieler bzw. Charakter taktisch klug gehandelt haben. Für den Vorstellungsraum und die Plausibilität der Spielwelt ist das deswegen problematisch, weil Fortgang der Handlung und der Beitrag des Charakters bzw. Spielers dafür voneinander entkoppelt werden können.

Der Unterschied aufgrund von Entscheidungen in der Spielwelt

Ich möchte diesen Gedanken etwas erläutern. Sehen wir uns zunächst ein Beispiel mit Bezug auf die vorgeschichtliche Rollenspielzeit an: Carl von Clausewitz steht mit zwei jungen preussischen Offizieren vor einem Sandkasten voller Zinnsoldaten und soll als „Schiedsrichter“ (rollenspieltechnisch gesehen: als entscheidendes „Regelsystem“ basierend auf seinen realen Erfahrungen) über das Übungsgefecht der gleich starken Armeen seiner beiden Azubis fungieren. Offizier Antons Plan sieht vor, mit seiner Kavallerie einen Frontalangriff auf die Linie von Offizier Bertram zu führen, während der Rest seiner Truppen dann nur noch die Überreste aufwischt – seine Artillerie will er ruhen lassen, um teure Munition zu sparen. Offizer Bertram hält dagegen, dass sich seine ganze Front ein paar hundert Meter bergauf zurückziehen soll, so dass Antons Kavallerie nun erst bergauf laufen muss und sich weiter von seiner Infanterie trennt. Oben warten seine Kanonen, die er mit Kartätschenladungen für Flächenbeschuss auf kurze Reichweiten bestücken lässt – Antons vom Beschuss geschwächte Kavallerie will er mit einem Umfassungsangriff schnell in die Flucht schlagen und anschließend den Hügel unter korrekter Anwendung preussischer Pelotonfeuertaktik gegen Antons später anrückende Infanterie abwärts vorrücken. Seine eigene Kavallerie soll währenddessen den Feind umgehen und Antons Front, sobald sie wankt, von hinten den Rest geben. Stell‘ dir vor, du wärst Carl – wen würdest du, allein basierend auf seinen Entscheidungen, den Sieg im Gefecht zusprechen? Wahrscheinlich ist das keine Frage, über die man lange nachdenken muss. Vergleichbare Entscheidungen gibt es auch im gewöhnlichen Pen&Paper-Rollenspiel und bezogen auf den eigenen Charakter bzw. die Heldengruppe – einige Beispiele habe ich oben genannt. Was passiert aber nun, wenn man konsequent seinen Charakter entwickeln (was bedeutet: ihn anhand seiner Erlebnisse auch verändern oder sich ändern lassen) will? In einem „simulierenden“ Regelwerk werden Faktoren wie z.B. Kampfaktik, Ausrüstung, zeitliche und räumliche Gegebenheiten etc. in den Ausgang eines Konflikts mit eingezogen – beispielsweise könnte Antons Kavallerie beim Ansturm auf den Hügel langsamer vorankommen und so einen geringeren Ansturmbonus erhalten, Bertrams Kartätschen gegen die breite Front der Gegner auf kurze Entfernung effektiver sein als gewöhnliche Kanonenkugeln, oder seine Infanterie beim Pelotonfeuer bergab einen Bonus erhalten. Die Gegebenheiten und taktischen Entscheidungen im Vorstellungsraum würden sich z.B. in handfesten regeltechnischen Modifikationen (die Entscheidungen machen einen Unterschied) niederschlagen – das wäre nachvollziehbar und würde eine regeltechnische Kongruenz zwischen Spielwelt und Spieltisch herstellen. Die Regeln funktionierten also im Sinne des Spielwelt-Regel-Realismus (SRR) und befördern so die Interaktion mit dem Vorstellungsraum (durch das Treffen kluger taktischer Entscheidungen). Was wäre aber der Fall in einem „nicht simulierenden“ Regelsystem? Dort würde Carl in seiner Rolle als Schiedsrichter z.B. einfach eine Münze werfen, um zu entscheiden, wer gewinnt. Die taktischen Entscheidungen der Spieler haben keinen Einfluss auf den Ausgang des Konflikts – und genau das passiert, wenn ein Regelsystem sich nicht am SRR orientiert. Ob hier taktisch kluge oder dumme Entscheidungen getroffen werden, macht keinen Unterschied – wenn bei 1-3 immer Seite A, bei 4-6 immer Seite B gewinnt, brauche ich mir über das „wie“ im Vorstellungsraum auch keine Gedanken zu machen. Aber warum ist das so fatal? Ich habe oben bereits erwähnt, dass wir in einem solchen, „nicht simulierenden“ System ein Problem haben, wenn wir Charaktere spielen wollen, die sich aufgrund des Spielgeschehens in irgendeiner Weise weiterentwickeln. Und zwar aus dem einfachen Grund, dass es aufgrund von derartigen Konfliktlösungen für solche Charaktere in der Spielwelt ebenfalls keinen Unterschied macht, wie sie sich verhalten. Was sie, als denkende Wesen, natürlich auch selbst erkennen können – wieso sollte ein Charakter als ein Bewohner des Vorstellungsraums sich rüsten, klug agieren, kurz: taktische Entscheidungen treffen, wenn diese für seine Erfolgsaussichten in der Spielwelt – aus eigener empirischer Erfahrung – keinen Unterschied machen? Man nehme einen SC-General, dessen Hintergrund bis Spielbeginn vorsieht, dass er durch kluge taktische Manöver auf dem Schlachtfeld stets siegreich blieb – und der dann einfach seine ersten drei Gefechte im laufenden Spiel verliert, weil sein Spieler eben 1-3 statt 4-6 gewürfelt hat. Was würden er und seine Mitmenschen über sein „Talent“ denken? Praktisch gesehen ist es sogar recht unwahrscheinlich, dass es in einer solchen Spielwelt überhaupt viele Leute gibt, die regelmäßig Erfolge – egal wobei – haben, denn wenn allein die Statistik entscheidet, spielen zugeschriebene Talente ohnehin keine Rolle. Noch allgemeiner gesagt: schreibt man den Bewohnern des Vorstellunsgraums eine auch nur minimale Rationalität zu, so werden sie aus ihren Erfahrungen lernen – was in diesem Fall, in einem „nicht simulierenden“ System bedeutet: es ist egal, was ich wie tue, am Ende stehen die Chancen immer 50:50. Warum also sich noch anstrengen, warum in eine unbequeme Rüstung steigen und eine teure Waffe in die Hand nehmen, warum eine Überzahl aufstellen und das Konfliktfeld zu seinen Gunsten nutzen? Es macht, ohne einen Anspruch von Spielwelt-Regel-Realismus, ohnehin keinen Unterschied.

Taktische Entscheidungsmöglichkeiten als Prüfstein sinnvollen Charakterspiels

Falk sagte mal (sinngemäß) irgendwo in einem Post: Es gibt kein nicht-simulierendes Rollenspiel. Genausowenig gibt es Rollenspiele, die komplett simulierend sind. Also erstmal durchatmen. Rollenspiele bewegen sich in der Regel auf einem Kontinuum zwischen möglichst genauer Spielweltabbildung durch Regeln (die üblicherweise eher schlecht als recht erreicht wird) und einer weitgehenden Trennung des Spielgeschehens von den Regelmechanismen (was also in Richtung Erzählspiel geht). Die interessante und seit langem offene (in meinen Augen nicht wirklich befriedigend beantwortete) Frage ist: wieviel Spielweltabbildung in Regelmechanismen ist notwendig, sinnvoll oder überflüssig, also wie groß soll die Regel-Hintergrund-Verschränkung (Spielwelt-Spieltisch-Kongruenz bzw. SRR) im Idealfall sein? Diese äußerst grundlegende Frage wird nach wie vor meiner Ansicht nach relativ wenig öffentlich diskutiert (was auch ein Grund für das Bestehen und eines der Hauptthemen des RPGnosis-Blogs ist). Auf der einen Seite gibt es regeltechnische Ungetüme wie Rolemaster (Geburtshilfemagie und Hutgröße, wir erinnern uns), auf der anderen Seite Erzählspiele wie Fate, wo Gummipunkte die Spielweltrealität überlagern und damit die Regelmechanik nur sehr oberflächlich mit dem Vorstellungsraum interagiert. Oder, um zum Thema taktischer Entscheidungen zurückzukommen: Wenn ich klassisches Rollenspiel betreiben will, möchte ich, dass ich taktische Entscheidungen in der Rolle meines Charakters treffen kann. Dafür ist es nötig, dass das, was dieser in der Spielwelt vorfindet (und auf welche Weise er damit interagiert), auch einen Unterschied in der Spielwelt macht. Sicher ist auch die Wahl einer Hartholzharnisch-Streifenschurz-2xNachtwind-Ausrüstungskombo irgendwie eine „taktische Entscheidung“, bleibt allerdings rein auf der Spielerebene der wertetechnischen Charakteroptimierung verortet – ist also keine taktische Entscheidung in einem engeren, rollenspielerisch-charakterimmanenten Sinne. Taktische Rollenspiel-Entscheidungen beziehen sich immer auf Gegebenheiten, die aus dem Vorstellungsraum kommen und die eine plausible Abbildung von Spielwelt und Spielregeln erfordern. Das Vorhandensein der Möglichkeit, taktische Entscheidungen, die einen Unterschied machen, aus der Perspektive des Charakters (der die Spielwelt kennt, und nicht nur aus des Spielers, der das Regelsystem kennt) treffen zu können, ist für mich einer der wichtigsten Prüfsteine für die Güte eines klassischen Rollenspielsystems. Die Voraussetzung dafür ist ein gewisser Anspruch an den Spielwelt-Regel-Realismus der Mechaniken des Spiels. Nur wenn der gegeben ist, kann Regelsystem Carl (am Spieltisch) tatsächlich sinnvoll dem den Sieg (oder, um das Zufallselement des Würfels miteinzubeziehen, eine höhere Chance auf einen Sieg) zusprechen, der in der Spielwelt kluge taktische Entscheidungen getroffen hat. Die Konsequenzen dieser Forderung nach SRR reichen, wie angesprochen, aber weit über die taktisch-strategisch-kämpferische Ebene hinaus: letztlich ist sie eine Grundvoraussetzung für charakterbasiertes Rollenspiel überhaupt. Noch weiter verstanden geht es nicht nur um einen regelmechanisch-hintergrundtechnischen, sondern auch um einen spielerisch-interaktiven Anspruch: Spielleiter sollten sich an den Setzungen des Spielgeschehens und der Spielwelt orientieren und nicht z.B. Regeln oder akzeptierte Hintergründe außer Kraft setzen, um einen gewünschten Plot durchzudrücken. Am Ende ist die Forderung nach SRR eine Forderung nach Konsistenz und Plausibilität, die einen möglichst harmonischen Austausch zwischen den Vorstellungsräumen eines jeden Mitspielers am Tisch ermöglicht.


[Nachsatz: Wieviel ist genug?

Was ist jetzt das ideale Maß zwischen Details und Abstraktion? An sich ganz einfach, und damit schwierig umzusetzen: Regelmechaniken sollen möglichst eng mit der Spielwelt verzahnt sein, dürfen aber keine 1:1-Abbildung versuchen oder sich im Kleinklein verlieren. Die regeltechnische Abbildung muss mit den Gegebenheiten in der Spielwelt soweit korrespondieren, dass die Ergebnisse, welche die Regelanwendung produziert, im Vorstellungsraum plausibel sind. Konkret heißt das: wenn Schlachten ein wichtiger Teil des Spielsystems sind, dann müssen auch die für Schlachten relevanten Gegebenheiten in der Spielwelt sich irgendwie regelmechanisch niederschlagen. Das bedeutet im Sinne des SRR nicht, dass man mehrseitige Tabellen mit allen möglichen Modifikatoren für die Würfe verschiedene Truppentypen bei unterschiedlichem Gelände und Wetterlagen braucht. Wohl aber, dass sich Gegebenheiten wie Wetter, Gelände, Ausrüstung, Erfahrung und andere Situationen (z.B. Überzahl) in für das Spielziel und den Detailgrad angemessener Weise auch regelmechanisch bemerkbar machen. Dreht sich das Spiel um die tatsächliche Konfrontation auf dem Schlachtfeld (die taktische Ebene), dann sind vielleicht zusätzliche Details wie Waffenvorteile, Boni für Flankenangriffe, Moralproben bei Verlusten etc. wichtig – kommandieren die Spielercharaktere aber ganze Heereszüge in einem großen Kriegsszenario auf kontinentalem Maßstab (die strategische Ebene), dann sollten stattdessen eher Details wie Marschgeschwindigkeiten, Nachschub, Spionage und Kompetenzen der anderen Offiziere eine Rolle spielen. In diesem Sinne ist also auch eine Savage Worlds-artige, abstraktere Schlachtensimulation nicht automatisch schlechter oder besser als eine Rolemaster-artige, hochdetaillierte. Es gibt also keine einfache Antwort; der richtige Detailgrad ist immer der, der zu den Intentionen des Spiels passt. Und je eher ein Regelsystem mit abstrakten Modifikatoren arbeitet und in einzelnen Bereichen auch „wohldefinierte Unschärfen“ beinhalten, desto besser kann es von der individuellen Spielgruppe verwendet werden. Natürlich ist ein konkreter Rahmen, der Standardmechaniken abdeckt, die Voraussetzung, damit das funktioniert, aber von der Idee eines „umfassend simulierenden“ Regelsystems sollte man sich inzwischen aus leidvoller Erfahrung verabschiedet haben. Gleichzeitig ist der Gedanke, dass Entscheidungen einen Unterschied (für die fortlaufende Handlung und auf angewendete Regeln) machen müssen, meiner Ansicht nach existentiell für klassisches Rollenspiel – denn das ist ein, vielleicht sogar der Anreiz, sich aktiv am Spiel zu beteiligen und kluge taktische Entscheidungen zu treffen. Regel-Hintergrund-Verschränkung und SRR sind in diesem Sinne weniger ein Ziel, das beim Design eines klassischen Rollenspielsystems (falschesterweise noch durch eine möglichst große Anzahl an Detailregeln) erreicht werden soll, sondern die Basis, auf die alle weiteren Mechanismen rekurrieren sollten. Denn wenn eine Spielwelt, nach Regeln bespielt, nicht so funktioniert, wie es die Hintergrundbeschreibungen vorsehen, lässt sich darin kein konsistenter und plausibler Vorstellungsraum und damit ein befriedigendes Spielerlebnis aufrechterhalten – zumindest nicht, ohne große Abstriche bei der Anwendung von Regelmechaniken zu machen. Das aber führt wiederum dazu, dass taktische Entscheidungen zunehmend schwieriger konsequent (sowohl aus Charakter- wie aus Spielerperspektive) getroffen werden können und damit zu geringeren Einflussmöglichkeiten auf das Spiel und damit zu weniger charakterorientierten Entscheidungen, die einen Unterschied machen – sprich: zu weniger Charakter-Rollenspiel.]

26 Kommentare zu “Taktische Entscheidungen auf Charakter- und Spielerebene (Karneval der Rollenspielblogs)

  1. Sorben sagt:

    Hallo, sehr schöner und umfassender Artikel. Mir hat das Beispiel mit Clausewitz und seinen Azubis gefallen. Wäre hier nur ein konkurrierender Wurf notwendig, bräuchte B. überhaupt keine strategischen Gedanken anstellen. Clausewitz (Spielleiter) könnte und sollte B. aber bei solchen Überlegungen immer einen Bonus einräumen (+2 auf seinen Wurf z.B.). Regelarme Systeme sind dann eigentlich nur Systeme, die den Spielleiter mehr fordern, um ein interessantes Spiel für alle zu ermöglichen, nur eine These.

    Guter Beitrag für den Karneval, Danke 😉

    • RPGnosis sagt:

      Danke für das Lob.
      Dem mit den regelarmen Systemen würde ich im Prinzip zustimmen, allerdings noch ergänzen, dass durch die Fokussierung der „Verantwortung“ beim Spielleiter (oder auch deren Diffusion auf die Verhandlungen der ganzen Gruppe) letztlich meiner Ansicht nach ein instabileres System des Austauschs zwischen den Vorstellungsräumen (lies: Rollenspiel) erzeugt wird, als wie wenn es eine solide und anerkannte Regelbasis für den Vorstellungsraum gibt.
      Ein regelarmes System *kann* unter Umständen zwar vielleicht sogar besser funktionieren als ein regelstarkes (da es schlicht weniger potentielle Inkonsistenzquellen gibt), macht das Spiel aber wesentlich abhängiger von der relativ zufälligen und kaum beeinflussbaren (außer durch Personaltausch) Übereinstimmung der Vorstellungen und Ansprüche (den weichen Konditionen) der einzelnen Mitspieler.
      Nichtsdestotrotz kann ich nachvollziehen, dass man lieber regelleichte Systeme wählt, vor allem, wenn die Zeit in steigendem Alter immer knapper wird – allerdings ist das keine notwendige Folge einer prinzipiellen Überlegenheit regelleichter Systeme, sondern mAn eine Folge der gewachsenen Unzulänglichkeiten regelstarker Systeme.

      • Sorben sagt:

        Da gebe ich dir vollkommen Recht. Spielleiter in regelarmen Systemen sollten erfahren und von der Gruppe anerkannt sein. Ansonsten kann man sich schnell die Finger mit anscheinend willkürlichen Entscheidungen verbrennen. In alteingesessenen Runden besteht meist schon ein Konsens, wie man bestimmte Sachverhalte bewertet, sozusagen ungeschriebene Hausregeln.

        • RPGnosis sagt:

          Nicht nur muss der SL von der Gruppe anerkannt sein, sondern seine Auslegung der Spielwelt, ihrer Funktionen und Hintergründe muss mit der aller Mitspieler möglichst genau übereinstimmen. Gibt es hier auch nur eine Person, die abweichende Vorstellungen von der Spielrealität hat, hat man sofort ein Problem, und zwar kein Kleines. Dem lässt sich zum Teil natürlich bereits über entsprechende Hintergrundbeschreibungen entgegenwirken, aber spätestens, wenn es um Gebiete geht, wo die Mitspieler unterschiedliche Wissensstände (aus der Realität) haben, kann es sehr schnell knacken im Gebälk.

          • arnebab sagt:

            Anders gesagt: Die Regel müssen all das Abbilden, das Beteiligten wichtig ist und zu dem kein automatischer Konsens besteht – also zu allem, bei dem der Vorstellungsraum nicht konvergiert ist. Dabei kann es auch reichen, wenn einer der Spieler von einem Thema viel Ahnung hat und die anderen (inklusive SL) ihn fragen.

            Viele offensichtlich plausible Sachen können dabei einfach per SL-Bonus/-Malus geregelt werden.

            Um Konsistenz zu haben – also damit eine Aktion das nächste Mal wieder ähnliche Chancen hat – schreiben wir relevant wirkende SL-Entscheidungen auf; z.B. auf ein Charakterblatt neben den Gegenstand, der dafür verwendet wurde.

            Das Problem von Inkonsistenz hatten wir v.a. in One-Shots: Wenn ein Mitspieler eine andere Vorstellung davon hat, was der Charakter kann oder wie die Welt funktioniert, als der Rest der Runde (oder die SL). Sowas wie „Drachen sind die Quelle der Magie“ oder „Durchschnittliche Stärke heißt so stark wie die Leute im Fitnessstudio!“. Dafür braucht es dann entweder bereits existierende Definitionen oder Regeln dazu, wie Fakten in die Spielwelt eingebracht werden. Wir verwenden meistens die Regel „sag nicht einfach es wäre so, sondern frag die SL, ob das so ist“. Die Antwort ist meistens „Ja“ oder „Ja, und zwar… (Komplikation)“.

  2. […] Chaotisch Neutral – Über die Kunst des Krieges Chaotisch Neutral – Vom Kriege RPGnosis – Entscheidungen auf Charakter- und Spielerebene […]

  3. Chris Beier sagt:

    Gute Artikel. Ich würde noch hinuzufügen, dass ein zu hoher Detailgrad manchmal der Intention und den Entscheidungen entgegenwirken kann.

    Wenn nämlich alle möglichen Faktoren innerhalb des Systems über Modifikatoren geregelt werden (und damit der Entscheidung des Spielers unterliegen), dann aber noch ein Würfelwurf ans Ende gesetzt wird, hat man ein Problem. Dieser Würfelwurf (der Erfolg und das Scheitern) muss dann nämlich innerhalb der Fiktion irgendwie begründet werden – d.h, es müssen *andere* Faktoren dazukommen, über welche man *keine* Kontrolle hat.

    Was macht der geneigte Spieler also? Er versucht beim nächsten Mal die Faktoren, welche das letzte Mal zum Scheitern geführt haben zu eliminieren und damit seine Erfolgschancen zu steigern… nur dass dies keinen Unterschied macht, weil die unerwünschten Faktoren eben *trotzdem* auftreten oder halt *andere Faktoren* dazukommen, welche den Erfolg *in genau der gleichen Weise* behindern.

    Das ist eine Schwäche von Systemen und Spielleitern, welche Würfel als „Simulation der Realität“ sehen, statt (vernünftiger) als „Simulation von nicht komplett kontrollierbaren Situationen“.

    • RPGnosis sagt:

      Und genau darin liegt eine der großen Schönheiten und Vorteile von Würfeln als Zufallsmechanismen: der inhärende Zufallsfaktor eines Würfelwurfs erlaubt, eine ganze Menge von Spielweltfaktoren (nämlich z.B. all die, die über eine regeltechnisch sinnvolle Darstellung und den erwünschten Detailgrad der Abbildung hinausgehen) schlicht in diesen Unsicherheitsmechanismus zu packen. Darum ist ein „machanisch neutrales“, d.h. z.B. würfelbasiertes System mAn auch einem, das auf purer Spielleiterwillkür beruht, überlegen, da es schlicht durch den Würfelwurf und die darin enthaltene Unsicherheit endlose Diskussionen über Für und Wider eines Ausgangs abschließen kann – dazu brauchen einfach nur alle der Anwendung der Regeln zustimmen.

      • Chris Beier sagt:

        Das mag sein, solange die Unsicherheit vorhanden ist. Sofern System auch „Routinehandlungen“ abbilden soll, kommt die Glaubwürdigkeit des Settings ziemlich in die Bredoullie (gerade GURPS hat einige Schoten in dieser Hinsicht).

        • RPGnosis sagt:

          Ja, das ist eine etwas knifflige Sache, wenn das Würfelsystem auch Routinehandlungen abbilden soll. Zumal der Begriff ja schon recht diskutabel ist. Da gibt es definitiv noch Verbesserungsbedarf in fast allen klassischen Systemen.

          • Chris Beier sagt:

            Routine (nach Duden) beinhaltet: Sicherheit (genug Erfahrung mit potentiellen Fehlschlagsfaktoren, dass man diese antizipieren kann), Schnelligkeit und Qualität (Überlegenheit).

            Ein Ersatz für Routine kann auch Sorgfalt (man kennt die Fehlschlagsfaktoren nicht, versucht sich daher abzusichern), Zeitaufwand und/oder Tiefstapeln sein.

        • arnebab sagt:

          Das lässt sich lösen, indem Würfe für Routine-Handlungen nicht über Erfolg und Versagen entscheiden, sondern über andere Effekte – zum Beispiel wie lange die Handlung dauert. Wenn solche anderen Effekte unwichtig sind, kann man den Wurf einfach weglassen (das machen wir im EWS: Ist dein Wert 6 oder mehr Punkte über dem Mindestwurf, musst du nicht mehr würfeln).

  4. Jan sagt:

    Super, spart mir das Schreiben eines (ausführlichen) Artikels, denn genau die Kernaussage habe ich zum Karneval auch beitragen wollen. Kann fast vollständig so unterschreiben. Das “Fast“ wird dann demnächst hoffentlich in einem kurzen Artikel bei mir erklärt 😉

  5. Case sagt:

    Toller Artikel!

    Das “Simulationsspieler” im Chaotisch Neutralen Sinne finde ich besonders schön. 🙂

  6. arnebab sagt:

    Danke für den Artikel! Das Beispiel mit Clausewitz finde ich toll gewählt!

  7. Falk sagt:

    Dem Beitrag ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Gerade Einschränkung der Optionen zugunsten der besseren Verregelung ist ja das, was gerade thematische RPGs und Brettspiele machen. Regelsicherheit geht halt auf Kosten der Freiheit.
    Hervorzugeben ist auf jeden Fall der SRR als Grundmechanismus des Rollenspiels, nicht als Beschreibung für „kompliziertes simulieren“. Gerade in abstrakten und doch akkuraten Mechanismen liegt ja gerade die hohe Kunst im Spieldesign.

    Und widersprechen möchte ich am Punkt von Regelsystemen als „sozialen Anker“. Das ist so der einzige Punkt, bei dem ich mich Andreas(SG) nie so recht anschließen kann.
    1. Aus meiner Erfahrung sorgt auch kein festes Regelfundament dafür, dass Spieler nicht mit ihren Ansprüchen an den Entscheidungen anecken, nur sind es dann halt die Entscheidungen des Designers.
    2. kein noch so reglementiertes System hat bislang bei uns den Feinkontakt mit der Spielwelt überstanden, weil wir Spielfreiheit relativ hoch achten.

    Zum Thema Würfel, Willkür und Taktik habe ich bereits einen Beitrag in Bearbeitung für den Karneval, weiß aber noch nicht, ob ich den mit einem runden Gedanken abschließen kann 🙂

    • mortoron sagt:

      SRR als Basis das KLASSISCHEN Rollenspiels.

      PrimeTimeAdventures (PTA) müsste da einen anderen Einsatz haben, dort haben die Charaktere ja weder Fertigkeiten, noch Ausrüstung, noch taktische Modifikatoren im Sinne des SRR.

  8. David sagt:

    Vielen Dank für diesen guten Artikel.
    für mich als DSA-Spieler und SL , dem ständig irgendwelche Phrasen wie „für mich sind Regeln unwichtig“,“der simulationistische Ansatz ist gescheitert“,“für mich zählt nur das Storyteller -Prinzip“ etc. um die Ohren gehauen werden, ist es geradezu wohltuend einen Artikel zu lesen,der sich um eine objektive Sichtweise der notwendigen Regelabstraktionsebene bemüht.

    • mortoron sagt:

      Dass simulationistische Systeme bei narrativistischen Spielern scheitern o.ä. ist ja kein Wunder. D.h. aber nicht, dass das System objektiv schlecht ist, es entspricht einfach nicht dem subjektiven Geschmack.

      Der Artikel beschreibt genau meinen Anspruch an Rollenspiele, meinen Spielstil, bei dem taktische Entscheidungen, die aus regeltechnischen Erwägungsgründen gefällt werden, innerhalb der Spielwelt sinnvoll sind und umgekehrt, so dass Spieler und Charakter ihre taktische Entscheidung in Übereinstimmung fällen und man sich nicht entscheiden muss, ob man nun als Spieler oder als Charakter taktisch agiert.

      Und bei mir ist jeder andere Ansatz gescheitert.

  9. […] RPGnosis hat sich dann daran gemacht, bestimmte Prämissen u.a. von Clausewitz einmal genauer zu betrachten. Was man tut, macht einen Unterschied. Ist dieser Satz im Rollenspiel zutreffend und ist das nicht gerade die Voraussetzung für strategisches Handeln? […]

  10. […] sich erzählerisch mit dem Gefecht auseinanderzusetzen, deutlich reduzieren. Das ist auch das Thema, das ich bereits bei einem Karneval behandelt habe: wenn die Situation oder Entscheidung in der Spielwelt auf der regelmechanischen Ebene keinen […]

  11. […] die Möglichkeit, relevante und sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Genau hierzu habe ich auch mal einen ausführlichen Artikel geschrieben. Die Quintessenz: Entscheidungen müssen einen Unterschied machen. Sonst kann man sie […]

  12. […] ist eine konsistente Verknüpfung von Regeln und Hintergrundwelt sehr hilfreich (angerissen auch in diesem Artikel; was man dafür braucht sind, „verknüpfte Mechanismen“ („associated mechanics“, auch dazu […]

  13. […] Alexandrier unterscheidet in einem anderen Artikel, der sich inhaltlich stark mit zweien der meinen deckt, zwischen „associated“ und „dissociated mechanics“, die […]

  14. […] die Kunst des Krieges Chaotisch Neutral – Vom Kriege Chaotisch Neutral – Der Fürst RPGnosis – Entscheidungen auf Charakter- und Spielerebene 1W6 – Angemessene Herausforderung, Gegnerstärke und Taktik Engors Dereblick – Von […]

  15. […] (Homepage) Taktische Entscheidungen auf Charakter- und Spielerebene (Artikel)Realismus im Rollenspiel – missliebig, missverstanden? […]

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